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Dienstag, 19. März 2024
Pop-up-Stores und Online-Direktverkauf ab April 2020

VW krempelt Vertrieb komplett um

Volkswagen krempelt sein Vertriebsmodell komplett um. Künftig soll es nicht nur neue Ausstellungsformen geben, sondern vor allem einen Direktvertrieb im Internet für Neuwagen, Serviceleistungen und Software-Updates, wobei Millionen von Kunden eine VW-ID erhalten. Nach langen Verhandlungen konnte auch die Händlerschaft mit ins Boot geholt werden.
VW krempelt Vertrieb komplett um
Volkswagen
In Hamburg gibt es den ersten Volkswagen-City-Showroom Deutschlands. Es ist eines von fünf
neuen Vertriebsformaten der Marke, mit denen die Händler künftig ihre Kunden ansprechen wollen
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Ein Wunschauto online zu konfigurieren ist schon fast ein alter Hut. Bei Volkswagen soll man es dort künftig auch kaufen können, direkt vom Hersteller. Die Händler sind von dieser Idee alles andere als begeistert, weshalb sich die Verhandlungen über den neuen Rahmenvertrag rund zwei Jahre hinzogen. Im April 2020 soll er in Kraft treten.

Nimmt man die gute Laune zum Maßstab, die VW-Vertriebsvorstand Jürgen Stackmann und Dr. Matti Pörhö, der Präsident der europäischen Händlervereinigung, bei der Vorstellung der neuen Vereinbarung in Berlin verbreiteten, dann gibt es bald nur Gewinner. Doch reibungslos ging der Deal nicht vonstatten. Insbesondere die Tatsache, dass Volkswagen unter Umgehung der Autohäuser selbst als Verkäufer auftreten will, führte zu heftigen Abstoßungsreaktionen.

In der europäischen Händlervereinigung sind VW- und Audi-Partner aus 21 Ländern organisiert. Gegenwind kam vor allem vom deutschen Verband, dessen Vorsitzender Dirk Weddigen von Knapp noch im Februar die Darstellung des Konzerns dementiert hatte, es seien Forschritte bei der Erarbeitung eines neuen Vertragswerks erzielt worden. In der vorliegenden Form, so wurde der damals geltende Entwurf kritisiert, sei die Vereinbarung abzulehnen.

Die "vielen Steine", die Weddingen von Knapp damals noch gesehen hatte, sind inzwischen ausgeräumt. Welche Seite die größeren Zugeständnisse machen musste, wollten weder Stackmann noch Pörhö so recht beantworten. "Ich glaube, der Deal ist fair", so Stackmann. Dem deutschen Verband war wichtig, dass der Kontrakt in bestimmten Punkten Flexibilität ermöglicht, "sonst können wir nicht auf Änderungen im Marktgefüge reagieren", so Weddigen von Knapp. Der Artikel 27 enthält deshalb eine so genannte "Positivliste". Darin wird festgelegt, dass der Verband bei bestimmten Themen eingebunden werden muss – mal in Form von Beratung, mal muss die Interessenvertretung explizit zustimmen.

Die entscheidende Unterschrift müssen jedoch die Chefs der Autohäuser in eigener Verantwortung leisten, und es ist keinesfalls sicher, dass alle 5.400 Händler- und Servicepartner noch mit an Bord sind, wenn das Abkommen am 1. April 2020 in Kraft tritt. Jürgen Stackmann geht davon aus, dass auch "Standorte geschlossen" werden, womöglich mutiert der eine oder andere Autosalon zu einem Supermarkt. Als wesentliches Ziel des Paktes sieht es Matti Pörhö an, die Stärke der Organisation zu erhalten, sie aber zu reformieren. Schließlich geht es um den Verkauf von 1,7 Millionen Pkw jährlich in Europa, dazu Reparatur- und Serviceleistungen.

Gänzlich neu werden die zahlreichen digitalen Dienstleistungen sein, die VW-Kunden dann in Anspruch nehmen können. Sie reichen von Online-Updates für die zahlreichen Informations- und Assistenzsysteme des Autos, Zukauf von Software sowie Dienstleistungen im Zusammenhang mit Ladeservice für Elektromobile oder Car-Sharing. Im Zentrum steht dabei der Aufbau einer gigantischen Datenbank, in der Identifikations-Nummern für Händler, Kunden und Fahrzeuge vergeben und zusammengeführt werden. Kunden sollen aber die vollständige Kontrolle über die von ihnen gespeicherten Daten behalten.

Eine positiv besetzte und unverdächtig klingende Vokabel fand denn auch recht häufig Verwendung in der Präsentation. Ein "Öko-System" aus Hersteller, Importeuren und Handelsorganisationen werde dort geschaffen, waren sich Stackmann und Pörhö einig, zu dem auch City-Showrooms und so genannte Pop-up-Stores gehören. "Es geht nicht mehr um Glaspaläste", ist sich Stackmann sicher, "diese Zeit ist vorbei". Gleichzeitig möchte er mögliche Existenzsorgen von Händlern, die sich vom Online-Direktvertrieb bedroht fühlen könnten, zerstreuen. Er rechnet mit einem Anteil von "maximal fünf Prozent" am Gesamtvolumen der Verkäufe bis 2025.

Dazu wird eine Internet-Plattform aufgebaut, die den gesamten Kaufprozess bis hin zum Vertragsabschluss, einschließlich Finanzierung, Bezahlung und Inzahlungnahme eines Gebrauchswagens ermöglicht. Als Kompensation für eventuell entgangene Umsätze beinhaltet das Vertragswerk auch eine Beteiligung der Händler an Verkäufen, die direkt zwischen Hersteller und Endkunden stattfinden. Wenn beispielsweise jemand eine digitale Aufrüstung für sein Fahrzeug ordert, ohne dass dazu eine Werkstatt aufgesucht werden muss, soll für die VW- und Audi-Partner ein gewisser Prozentsatz abfallen.

Gleichzeitig mit der Neuorganisation des Vertriebs soll eine grundsätzliche Renovierung der Abläufe in den Handelsbetrieben stattfinden. Die administrative Bearbeitung von Aufträgen dauerte in der Vergangenheit zu lange, hat Stackmann festgestellt. Mehr als eine Stunde im Schnitt gehen für Eingaben in verschiedene Verwaltungs- und Bestellsysteme drauf, "das ist katastrophal, wie es jetzt läuft", so der Vertriebsvorstand. Durch Prozess-Optimierung soll nicht nur die Rentabilität gesteigert, sondern auch Zeit gewonnen werden, die der Verkäufer oder Servicepartner für den Kunden aufwenden kann. Die Kontaktrate mit ihnen soll deutlich erhöht werden. Im Idealfall werden dem Kunden also Wünsche erfüllt, von denen er heute noch gar nicht weiß, dass er sie hat.

Auf lange Sicht wird die Marke Volkswagen das veränderte Geschäftsmodell nicht als Exklusiv-Unternehmung betreiben. Die anderen Konzernmarken "gehen auch in diese Richtung", sagte Vertriebschef Stackmann in Berlin. Obwohl es noch rund 17 Monate dauert, bis das Abkommen Rechtskraft erlangt, tickt bei den Volkswagen- und Audi-Partnern bereits die Uhr: Nur rund sechs Wochen bleiben ihnen, die 760 Gramm schwere Blattsammlung durchzuarbeiten. Bis 30. November erwartet man in Wolfsburg ihre Unterschriften.
text  ampnet / Axel F. Busse
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