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Samstag, 20. April 2024
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Notizen zum System standardisierter Crashtests | Von Hanno S. Ritter

Editorial: EuroNCAP muss sich reformieren

Siehe Bildunterschrift
Smart vs. E-Klasse: DaimlerChrysler
Bei EuroNCAP schafft der Smart "nur" drei Sterne - doch er ist bis dato der einzige Klein(st)wagen mit serienmäßigem ESP auch im Basismodell
Sicherheit ist eines der wichtigsten Themen bei Autos, wenn nicht das wichtigste – keine Frage. Dennoch scheint sich das System der bekannten Crashtests à la EuroNCAP langsam zu überleben. Oder gerade deswegen.
Wenn den Autor nicht alles täuscht, dann beginnt die breite öffentliche Aufmerksamkeit für das Thema mit Crashversuchen, die die Kollegen der "auto motor und sport" ab den 1980er Jahren durchführten. Später folgte der ADAC und dann EuroNCAP als unabhängiger Zusammenschluss diverser Behörden, Verbände, Vereine und Organisationen.

Würde man ein durchschnittliches Kompakt-Modell von 1985 mit den heutigen Testmethoden crashen, so wäre das Ergebnis in den allermeisten Fällen hanebüchen schlecht, der öffentliche Aufschrei groß - und der betreffende Hersteller hätte zu Recht ein echtes PR-Problem.

Der Sicherheitsstandard hat sich nicht zuletzt - möglicherweise gar vor allem deshalb - in den letzten Jahren also merklich verbessert. Das ist die gute, beileibe nicht zu unterschätzende Seite von EuroNCAP. Die schlechte ist weniger der zweifelhafte Vergleich von links- und rechtsgelenkten Modellen, das nervige Gepiepse der Gurtwarner beim Ausparken, womit der überwiegend angeschnallten Mehrheit Nachteile für die Gurtmuffel aufoktryiert werden (die sie auch noch mitbezahlen muss) oder die suboptimale Öffentlichkeitsarbeit der Organisation, sondern vielmehr ein grundsätzliches Problem.

Ein Blick auf die jüngsten Ergebnisse der letzten Jahre zeigt, dass das System in der bekannten Form weitgehend am Ende ist: Fünf Sterne sind für Autos ab der Größe eines VW Polo nicht nur ein Muss, sondern auch eine Selbstverständlichkeit geworden, bei Kleinstwagen vom Schlage eines Peugeot 107 darf man vier Sterne erwarten. Ausrutscher wie den des Dacia Logan oder im letzten Jahr in abgeschwächter Form den des BMW 5er sind selten geworden und jedenfalls im ersten Fall auch nicht verwunderlich: Von einem Auto, das gerade einmal gut 7.000 Euro kostet, darf man letztlich wohl auch nicht mehr erwarten.

Wer aber glaubt, die Tendenz ginge so weiter, der irrt: Allzu große Fortschritte in der passiven Sicherheit sind jedenfalls mittelfristig nicht mehr zu erwarten. Dazu sind die Anforderungen (Stichwort Insassenschutz, Fußgängerschutz, Kompatibilität) zu hoch und teilweise gegensätzlich, das Budget und der zur Verfügung stehende Platz zu klein. Ein Vectra wird nicht so sicher werden wie ein Formel 1-Auto, und auch eine S-Klasse nicht.

Folgt man der Prämisse, wird es also in Zukunft immer mehr 5-Sterne-Modelle geben. Eine Verschärfung der Kriterien scheint derzeit nicht zur Debatte zu stehen, und darunter würde auch die Vergleichbarkeit stark leiden, ganz zu schweigen vom immensen auch finanziellen Aufwand, einige Modelle erneut mehrfach an die Wand oder den Pfahl zu fahren. Notabene mag man auch fragen, ob es überhaupt sinnvoll ist, an einen günstigen Kleinstwagen die gleichen Maßstäbe anzulegen wie an eine Oberklasse-Limousine für Besserverdienende.

Vor allem aber mag man das komplette Procedere standardisierter Crashtests in Frage stellen. Zweifellos sind heutige Modelle ganz exakt auf die EuroNCAP-Konstellation abgestimmt, die vor Markteinführung Hunderte von Male am Computer und mutmaßlich Dutzende Male in der Realität simuliert wird. Man wird darüber nachdenken müssen, ob und ggf. inwieweit darunter die allgemeine Sicherheit leidet, um die es in der Praxis ausschließlich geht. Wie etwa schneidet Modell XY ab, wenn die Geschwindigkeit beim Test minimal erhöht oder die Überdeckung leicht geändert wird? Wie sieht es eigentlich aus, wenn der Unfall-"Gegner" keine definiert gestaltete und verformbare Barriere, sondern ein entgegenkommendes Auto, ein Lkw, ein Baum ist?

Noch vor 20 oder mehr Jahren war die Sache klar: Wer ein vergleichsweise sicheres Auto will, kauft Volvo, vielleicht Saab oder insbesondere Mercedes. Das sind jene Firmen, die schon vor bald fünfzig Jahren viele Gedanken und viel Geld in das Thema investiert haben, die Knautschzonen, Sicherheitsgurte, entschärfte Innenräume, Sicherheitslenksäulen und später Airbags erfunden und umgesetzt haben, während beim Gros der Hersteller das Thema noch mehr als abseits stand.

Wie ist es heute? Ist ein Mercedes immer noch sicherer als ein vergleichbarer Audi? Oder optimiert auch Mercedes nur noch auf die festgelegten Kriterien? Ist Audi vielleicht gar vorbeigezogen? Hat BMW beim 5er möglicherweise absichtlich ein schlechtes EuroNCAP-Ergebnis in Kauf genommen, insgesamt aber ein sehr sicheres Auto gebaut? Wie sicher ist eigentlich ein Porsche? Die Hersteller schweigen dazu naturgemäß (oder leider), und EuroNCAP weiß darauf ebenfalls keine Antwort. Der Autor dieser Zeilen jedenfalls würde - ganz subjektiv - lieber im Mercedes W123 von 1982 einen Frontal-Unfall haben als im Citroën C1 unserer Tage.

Es gibt Gerüchte, wonach es manche Modelle, die bei EuroNCAP gut abschneiden, in den USA nicht gibt, weil sie dort die Crashversuche erst gar nicht erfüllen würden und in der Folge keine Zulassung bekämen. Ob das stimmt, muss an dieser Stelle offen bleiben, doch der Gedanke zeigt, wo der Hund begraben liegt - begraben liegen könnte.

Das ist die eine Seite der Problematik. Möglicherweise wichtiger ist aber ein ganz anderer Aspekt:

Die Zukunft der Sicherheitsfortschritte beim Automobil, ob man das nun gern hört oder nicht, liegt in der aktiven Sicherheit und damit in der Elektronik: Von ABS über ESP, von Nachtsichtgeräten über Head-up-Displays, von Abstandstempomaten bis hin zur Überwachung der Fahrermüdigkeit. Hier bedürfte es größerer Anstrengungen von Teilen der Medien, von Herstellern und Organisationen: Hätte nur jedes Auto in Deutschland ESP, gäbe es Schätzungen zufolge möglicherweise bis zu 2.000 Tote - ein Drittel - weniger als bisher. 2.000 Tote in einem Jahr - fünf Menschen jeden einzelnen Tag.

Selbst wenn die Quote nur halb so hoch wäre - es wird höchste Zeit für ESP als Standard. Das haben diverse Studien längst bewiesen. Unfallforscher bezeichnen die "Schleuderbremse" bereits als zweitwichtigste Errungenschaft nach - nein, nicht den Airbags - dem Sicherheitsgurt, und das trotz der immer wieder aufkommenden Diskussion über mögliches Kompensationsverhalten der Autofahrer, das tatsächlich so gut wie keine Rolle spielt.

EuroNCAP wird sich überlegen müssen, wie man in Zukunft weiter testet und vor allem bewertet. Dass die Organisation darüber nachdenkt, ist klar. Heute rief sie erstmals öffentlich alle Autokäufer dazu auf, das nächste Fahrzeug nur noch mit ESP zu kaufen. Höchste Zeit wurde es, und höchste Zeit wird es für ein neues Bewertungsschema, das auch aktive Komponenten mit einschließt. Hierzu gehört ESP an erster Stelle, aber auch Selbstverständlichkeiten wie gutes Licht, gute Übersichtlichkeit, stabile Sitze, passable Kopfstützen und vieles mehr.

Die Unfallzahlen, vor allem die Opferzahlen, sind tendenziell sinkend. Dass muss so bleiben, mindestens. Am besten durch Unfälle, die erst gar nicht passieren, zum Beispiel wegen einer kleinen Blackbox, die baldigst in keinem Neuwagen mehr fehlen sollte. EuroNCAP muss dabei weiter am Ball bleiben, darf aber die Zeichen der Zeit nicht verschlafen. Gurtwarner sind nicht alles.
text  Hanno S. Ritter
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