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Samstag, 20. April 2024
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Versicherer fordern bessere Standards und gesetzliche Regelung

Heckaufprall: Nur jeder sechste Sitz ist gut

Siehe Bildunterschrift
Aktuelle Autositze im Heck- GDV
Crashtest: Nur 16 Prozent sind gut
Sechs von zehn Autositzen bieten bei einem Heckaufprall ungenügende Sicherheit, jeder dritte Sitz ist "ungenügend". Dies geht aus einer jetzt vom Verkehrstechnischen Institut der Deutschen Versicherer in Berlin veröffentlichten Untersuchung hervor, bei der 111 Sitze von gängigen Modellen des aktuellen Jahrgangs untersucht wurden. Grundlage hierfür war ein neues Testverfahren, auf das sich die Versicherer in diesem Jahr weltweit geeinigt hatten.

Für die dynamischen Tests wurden die Sitze auf einen Testschlitten montiert und - wie bei einem Heckaufprall - aus dem Stand nach vorne beschleunigt. Dabei wurde ein typischer Stoßverlauf simuliert, der den Sitz innerhalb von 90 Millisekunden auf eine Geschwindigkeit von 16 km/h beschleunigte - was ungefähr einem Aufprall in das Heck eines stehenden Fahrzeuges mit 32 km/h entspricht. Als Crashtestdummy kam ein speziell für diese Versuchsart entwickelter "BioRID II" (Rear Impact Dummy) zum Einsatz.

Während 80 Prozent der getesteten Sitze die Geometrie-Bewertung "gut" oder "akzeptabel" erzielten, hatten 17 Prozent eine mäßige und drei Prozent sogar eine schlechte Geometrie. Diese Gruppe von Sitzen erhielt deshalb in der Gesamtbewertung ohne weiteren Schlittentest das Urteil "schlecht". Von den weiteren 89 Sitzen, die zusätzlich "gecrasht" wurden, erreichten beim dynamischen Test nur 17 Prozent die Note "gut" und 23 Prozent ein "akzeptabel". Die Gesamtbewertung aus Geometrie- und Dynamiktest fällt dementsprechend schlecht aus: Mehr als die Hälfte der untersuchten Sitze erhielt eine mäßige (25 %) oder eine schlechte Bewertung (35 %), knapp ein Viertel (23 %) wurden insgesamt "akzeptabel" beurteilt und nur 16 Prozent erhielten das Prädikat "gut".

Die mit "gut" bewerteten Kandidaten sind Opel Corsa, Renault Scénic und Modus, Ford Focus, Focus C-MAX und Mondeo sowie Jaguar S-Type, Nissan Almera Tino und Primera, Saab 9-3, Seat Altea und Toledo sowie die Volvo-Modelle S40, S60, V70, S80 und XC90. Unter den Schlusslichtern befinden sich u.a. Ford Ka, Fiat Panda, Renault Clio, VW Polo, Alfa 147, Toyota Corolla, BMW 5er, Opel Meriva, VW Sharan und LandRover Freelander. Die schlechten Ergebnisse sind also keineswegs auf Fahrzeuge der unteren Preisklassen beschränkt. Unter den gut und "akzeptabel" abschneidenden Sitzen sind mehrere mit "aktiven" Kopfstützen, die sich - beispielsweise über einen Hebelmechanismus - schneller an den Hinterkopf bewegen und eine Überdehnung der Halswirbelsäule verhindern. Aber auch konventionelle Sitzkonstruktionen können, wie einige Kleinwagen beweisen, einen akzeptablen Schutz bieten. Die Einzelbewertungen hat der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) inzwischen auch veröffentlicht (siehe nachfolgende Downloads).

Hintergrund der Untersuchung sind jährlich etwa 200.000 Heckauffahrunfälle in Deutschland, bei denen es oftmals zu einer Verletzung der Halswirbelsäule kommt. Die oft auch als Schleudertrauma (schematische Darstellung) bezeichnete Verletzung führt bei den Betroffenen zu Nacken- oder Kopfschmerzen - in jedem zehnten Fall sogar zu länger andauernden Beschwerden. Die dabei entstehenden Kosten beziffert der GDV auf rund eine Milliarde Euro im Jahr für medizinische Behandlung, Lohnfortzahlung und Schmerzensgeld - Kosten, die alle Autofahrer über ihre Versicherungspolicen mittragen müssen. Mit guten Sitz-Kopfstützenkombinationen ließe sich laut GDV mindestens jede dritte HWS-Verletzung nach leichten Auffahrunfällen vermeiden.

Voraussetzungen dafür sind eine Kopfstütze, die sich auch für große Personen weit genug herausziehen lässt und die nicht zu weit vom Kopf entfernt ist. Selbst solche einfachen Grundregeln erfüllen aber viele Sitze nicht. Deswegen fordert der GDV eine dringende Novelle der entsprechenden europäischen ECE-Normen. Sollte dies nicht in absehbarer Zeit möglich sein, müsse über eine nationale Zwischenlösung nachgedacht werden.

Last, but not least: Der beste Sitz und die beste Kopfstütze helfen nur dann, wenn Autofahrer sie auch richtig einstellen. Die Oberkante der Kopfstütze sollte dabei ungefähr auf Höhe der Kopf-Oberkante sein, der Abstand zwischen Kopf und -stütze nur wenige Zentimeter betragen. Die Rückenlehne des Sitzes sollte möglichst steil stehen. Damit übrigens ist auch eine Vollbremsung besser zu bewerkstelligen - und unbequem ist das alles dabei nicht, höchstens anfänglich ungewohnt.
text  Hanno S. Ritter
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